Der „NSU“ und Hannover
Im Gedenken an:
- Enver Simsek, einen Blumenhändler aus Schlüchtern, der am 9. September 2000 in Nürnberg ermordet wurde
- Abdurrahim Özüdogru, einen Fabrikarbeiter und Änderungsschneider, der am 13. Juni 2001 in Nürnberg ermordet wurde
- Süleyman Tasköprü, einen Obst- und Gemüsehändler, der am 27. Juni 2001 in Hamburg ermordet wurde
- Habil Kiliç, einen Obst- und Gemüsehändler, der am 29. August 2001 in München ermordet wurde
- Mehmet Turgut, einen Verkäufer in einem Dönerimbiss, der am 25. Februar 2004 in Rostock ermordet wurde,
- Ismail Yasar, den Inhaber eines Dönerimbisses, der am 9. Juni 2005 in Nürnberg ermordet wurde,
- Theodoros Boulgarides, den Mitinhaber eines Schlüsseldienstes, der am 15. Juni 2005 in München ermordet wurde
- Mehmet Kubasik, den Inhaber eines Kiosks, der am 4. April 2006 in Dortmund ermordet wurde
- Halit Yozgat, den Inhaber eines Internetcafés, der am 6. April 2006 in Kassel ermordet wurde
Dem Opfer des Rohrbombenanschlags am 23. Juni 1999 in Nürnberg Den 22 Opfern des Nagelbombenanschlags am 9. Juni 2004 in Köln sowie den Opfern der mindestens 15 Raubüberfälle und allen weiteren vom rechten Terror des NSU Geschädigten.
[Erklärung zum Begriff „NSU“: die Bundesstaatsanwaltschaft fasst mit dem Begriff NSU bzw NSU-Trio die beiden Toten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zusammen. Da die drei aber nicht isoliert und alleine handelten ist die gedankliche Vorstellung eines Netzwerks in dessen Zentrum das „Trio“ stand realitätsnäher. Wenn im Text vom NSU gesprochen wird ist das „Trio“ zusammen mit dem Netzwerk der Unterstützenden gemeint.]
Am 4. November 2011 scheiterte ein Banküberfall der beiden Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach. Nach einem Schußwechsel mit Polizisten liegen beide tot am Boden, das Wohnmobil der beiden brennt. Am Nachmittag des 4. November 2011 explodiert die Dachgeschosswohnung in der Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe zuletzt gewohnt hatten. Beate Zschäpe macht sich aus Zwickau auf zu einer Odysee mit der Bahn, die sie in verschiedene nord- und mitteldeutsche Städte führt. Auch nach Hannover kommt sie, bevor sie sich am 08. November der Polizei stellt.
Der „Nationalsozialistische Untergrund“ soll zwischen 1998 und 2011 meherere Sprengstoffanschläge, fünfzehn Raubüberfälle, einen Anschlag mit einer Nagelbombe und zehn Morde an migrantischen Kleinunternehmern begangen haben. Bei der Aufarbeitung des „NSU-Komplex“ kommt es in den folenden Jahren zu meheren gravierenden Zwischenfällen, die in der medialen Öffentlichkeit als Pannen rezipiert werden.
Schnell wird öffentlich, dass viele der Personen aus dem direken Unterstützerumfeld der Drei V-Leute sind. Stand Ende 2017 muss von mindestens 45 V-Leuten im Umfeld des des NSU-Trios ausgegangen werden. Die Landesämter für Verfassungsschutz schredderten in der sogenannten „Operation Konfetti“ viele Akten die möglichweweise die Verstrickung von V-Leuten, Verfassungsschützern und NSU belegen würden. Über die vergangenen Jahre seit der Selbstenttarnung des NSU kam zu außerdem sechs Todesfällen bei Zeugen die den NSU oder Unterstützer hätten belasten können. Vier der Todesfälle hängen mit dem Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter zusammen, die nach Ansicht der Bundesstaatsanwaltschaft auch vom NSU ermordet wurde. Zwei der Todesopfer sollen sich durch anzünden ihrer Autos suizidiert haben, ein V-Mann starb an unerkanntem Diabetes.
Holger Gerlach
Einer der wichtigisten Unterstützer des NSU ist Holger Gerlach. Holger Gerlach wurde nach der Selbstenttarnung verhaftet, saß in Untersuchungshaft und wurde ins Zeugenschutzprogramm entlassen, nachdem er gegen das NSU-Trio aussagte.
Holger Gerlach wurde 1974 in Jena geboren und wuchs dort auf. Er war von 1988 bis 1997 Mitlied des „Nationalen Widerstand Jena“ und war mit diesem, Teil des „Thüringer Heimatschutz“, der Neonazikameradschaft in der auch das NSU-Trio aktiv war, bevor es 1997 in den Untergrund ging. Uwe Mundlos und Böhnhardt lernte er in den frühen 90er-Jahren kennen. Fotos zeigen ihn unter anderem 1996 auf einer Nazi-Demo für den Nazi-Kriegsverbrecher Rudolf Heß in Worms. Dort trägt er mit Zschäpe, Mundlos und Ralf Wohlleben eine schwarz-weiß-rote Fahne.
Gerlach zog 1997 mit seiner Mutter nach Hannover Bothfeld, Uwe Mundlos half beim Umzug. Er arbeitete bis 2011 in Hannover als Lagerist und war unter anderem Mitglied im Betriebsrat. 2009 zog er mit seiner Freundin nach Lauenau. In Hannover war er Teil der Kameradschaftszene, nahm an Demonstrationen und Aktionen der örtlichen Neonazi-Szene teil und besaß vor allem zu Blood & Honour einen engen Kontakt. Seit dem gescheiterten Raubüberfall des NSU am 4. November 2011 und dem damit beginnenden Ermittlungsverfahren saß Holger Gerlach in Untersuchungshaft. Im ausgebrannten Wohnmobil wurde neben der Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und mehreren Waffen auch ein Führerschein gefunden, mit welchem das Wohnmobil sowie im laufe der Jahre noch 11 weitere Fahrzeuge angemietet wurden, mit denen insgesammt 13 Straftaten begangen wurden. Ausgestellt ist der Führerschein auf Holger Gerlach. Desweiteren besorgte Gerlach einen neuen Persnalausweis und eine AOK-Karte sowie einen Büchereiausweis für die Bücherei in Hannover-Herrenhausen. Die Reste der Ausweise wurden in den Trümmern des Hauses in Zwickau gefunden. Hierbei half ihm das Ehepaar Scheidemantel aus Langenhagen. Silvia Scheidemantels Ehemann war Teil der Neonazikameradschaft Hannover/Langehagen. Bis zum 25. Mai 2012 befand sich Gerlach in Untersuchungshaft. Nach umfangreichen Aussagen gegen die anderen, im NSU Prozess Angeklagten wurde er entlassen und befand sich danach vorrübergehend im staatlichen Zeugenschutzprogramm welches er jedoch freiwillig wieder verließ. Gerlach ist nun wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung Mitangeklagter im NSU Prozess. Er hofft durch seine umfangreichen Aussagen nach Paragraf 46 b Strafgesetzbuch als Kronzeuge angesehen zu werden und damit bei Urteilsverkündung auf ein deutlich milderes Urteilzu bekommen.
Er selber gibt an, sich ab 2004 von der Rechten Szene gelöst zu haben und anschließend nurnoch vereinzelten, auf freundschaftlicher Ebene bestehenden Kontakt zu alten Kameraden gehabt zu haben. Diese Aussage muss angezweifelt werden, was sich im laufe des Textes anhand mehrere Aktionen aufzeigen lässt.
Gerlachs Wirken in der hannoverschen Neonazi-Szene
Als Gerlach nach Hannover zieht, ist die lokale Nazi-Szene bereits gut in den Osten vernetzt. So spielte die bekannte hannoversche Rechtsrockband Nordfront im März 1998 in Sachsen-Anhalt, hannoversche Nazis der Kameradschaft Hannover/Celle 73 trugen auf der Neonazidemo am 1. Mai in Leipzig das Fronttransparent der Freien Kameradschaften.
Besonders der Sommer 1998 ist durch gewalttätige Angriffe von Neonazis auf Gegner*innen in Hannover gezeichnet. Rechte Skins griffen eine Abi-Feier in der Wedemark mit Schreckusswaffen an, verprügelten Besucher*innen des Schützenfest in Burgwedel und zettelten eine Schlägerei auf dem Stadtfest in Langenhagen an, nachdem sie einen philiphinischen Stand beschädigten. Im Juni 1998 prügelten sich zudem deutsche Hooligans und Neonazis anlässlich der Fußball Europameisterschaft durch das französische Lens. Für europaweites Aufsehen sorgt dabei ein Angriff auf einen französischen Polizisten der als Folge des Angriffs schwerbehindert wird. Als einer der Täter wird später Markus Warnecke aus Hannover veurteilt. Im Winter 1998 folgen meherere Neonazi-Demos in Hannover. Bei einer Demonstration der NPD zum Rathaus am 19. Dezember 1998 an der sich 170 Nazis beteiligen läuft Holger Gerlach zusammen mit Neonazis aus dem Umfeld von Blood & Honour, unter anderem Markus Zenkert, der Rechtsrockkonzerte veranstaltet, Mitgliedern der rechten Parteien Republikaner und der „Deutschen Volksunion“. Außerdem nehmen Neonazis aus dem Umfeld der Kameradschaft Hannover/Celle 73 und der 96-Fangruppe Komplott Hannovera am Aufmarsch teil.
Im Dezember 1999 organisierte Gerlach einen rechten Liederabend in Hildesheim, bei dem die Jenaer Band „Eichenlaub“ auftrat. Die Band hatte zuvor ein Lied in Homage an den NSU geschrieben. Mit auf der Bühne steht ein echter Promi der Rechtsrockszene: Stigger ein Mitglied der Rechtsrockband Skrewdriver, den Gründern von Blood & Honour, die in ihren Publikationen den „führerlosen Widerstand“, nachdem der NSU arbeitete, proklamierten. Ein weiterer spannender Gast an diesem Abend ist Johannes Knoch, der ein Tattoostudio und einen Militärausstattungsgeschäft in Hildesheim besitzt. Außerdem bietet er Schulungs- und Trainingskurse für Soldaten an, an denen auch bekannte Nazis teilnahmen. Einige Jahre später besuchen zwei andere Hildesheimer Neonazis das Geschäft um eine Waffe für den NSU zu besorgen.
Holger Gerlach wird an diesem Abend als Ehrengast begrüßt. Er soll Eichenlaub eingeladen und vom Bahnhof abgeholt haben. Eichenlaub, Gitarrist Erlwig und Sängerin Jecha sind beides Mitglieder des Nationalen Widerstands Jena. Über das untertauchen des NSU schrieben sie das Lied. „5. Februar“.
Auszug/Zitat: Eichenlaub – 5. Februar „[…] die Polizei kam auf euch die Spur / nun hieß es Abschied für wie lange nur […]“
„[…]Traurig geht ein Blick noch einmal zurück / Etwas fehlt es kommt nie mehr zurück […]“
„[…] Die Kameradschaft bleibt bestehen / sollten wir uns auch nicht mehr wieder sehen / Der Kampf geht weiter nur vorran / Für unser deutsches Vaterland […]“
„[…] Hoffnung… Die Frage bleibt nur warum… […]
Gerlach war außerdem Teil der „Kameradschaft Verena“, einer insofern bedeutenden Kameradschaft, als dass sie nach ihrer Führerin Verena Jacobus benannt wurde. Die Kameradschaft traf sich bei ihrer Anführerin nahe der Limmer Schleuse. In den folgenden Jahren nimmt Gerlach an meheren Demonstrationen Teil, so unter anderem 2003 in Neumünster gegen die Wehrmachtsausstellung.
Im Januar 2005 demonstriert er zusammen mit Marc-Oliver Matuczeweski in Magdeburg anlässlich der Bombadierung der Stadt im zweiten Weltkrieg. Im Mai des gleichen Jahres reist er mit Matuczewski nach Berlin um an einer Demo der NPD-Jugendorganisation unter dem Titel „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult“ teilzunehmen. Einen Monat später demonstriert er in Braunschweig auf einer Demo mit dem Titel “Sozialabbau, Rentenklau, Korruption – nicht mit uns”. Fotos zeigen ihn in einer Gruppe von Nazis der Kameradschaft Weserbergland. Im Dezember 2005 provoziert Gerlach zusammen mit Matuczewski am Rand einer Schüler*innen-Demo gegen rechte Gewalt in Garbsen und wird von Antifaschist*innen verjagt.
Noch kurz vor seiner Festnahme, am 25. Oktober 2011 begleitete er seinen Freund Marc-Oliver Matuczewski zu einem Prozess am Amtsgericht, weil er „Stress mit Linken“ berfürchtete. In seiner ersten Vernehmung gab Gerlach an Ende 2011 wieder vermehrt Kontakt zu rechten Szene in Hannover zu suchen.
Noch ein paar Worte zu dem Umfeld in dem sich Gerlach in Hannover bewegte. Von Beginn an ist er im Umfeld von Blood & Honour unterwegs, die zu diesem Zeitpunkt für den „weißen arischen Widerstand“ kämpfen und bewaffnete Strukturen bilden und unterstützen. Eine dieser Stukturen ist ab 1998 der NSU. Andere Personen aus seinem Umfeld waren zuvor Teil von paramilitärischen Wehrsportgruppen und waren an Angriffen auf das Unabhängige Jugendzentrum Kornstraße und das besetzte Sprengel-Gelände mit Molotowcocktails beteiligt. Alexander Scheidemantel, ein Mitglied der hannoverschen Nazi-Szene erzählte im NSU-Prozess, er habe Gerlach im Jahr 2000 auf der Geburtstagsfeier von Andreas Reckling kennen gelernt. Ein anderes mal sei es die Feier von Sebastian Walther aus Seelze gewesen. Andreas Reckling war 1988 an einem Anschlag auf das besetzte Sprengel-Gelände beteiligt, bei dem ein Besetzer durch ein Stich mit dem Messer lebensgefährlich verletzt wurde. Im April 1994 richtete der ehemalige ANS/NA-Karder Reckling eine „Geburtstagsfeier“ für Hitler aus. Reckling, seines Zeichens auch ehemaliges Mitglied der Wehrsportgruppe Jürgens und Gerlach waren im Dezember 1998 gemeinsam auf der oben genannten Demo. Marc-Oliver Matuczewski wird im Zuge der Annährung von NPD und Kameradschaftsszene im Jahr 2008 Vorsitzender der NPD, ab 2010 ist er der Kopf der bundesweit bekannten und mittlerweile verbotenen Nazi-Kameradschaft „Besseres Hannover“, die einerseits durch „Agit-Pop“-Aktionen und anderseits durch gewaltsame Angriffe auf politische Gegener auf sich Aufmerksam macht. Mit Markus Zenkert und Julien Albrecht bewegt er sich im Umfeld der Karder von Blood & Honour. Das er dabei kein kleines Licht ist, zeigt die Organisation des Konzerts in der Blood and Honour Zelle Hildesheim. Gerlachs PC-Passwort war 02121945. Am 02.12.1945 wurde Charles Watson, Mitglied der „Manson-Family“ geboren, die mehere Morde begangen. Bei dieser Mordserie wurde eine Kreditkarte eines Opfers in einer Wohngegend von PoCs hinterlegt, damit diese die Kreditkarte benutzten und der Verdacht auf sie gelenkt wird.
Treffen/Unterstützung von Gerlach mit dem NSU
Im Jahr von Gerlachs Umzug von Thüringen nach Hannover tauchen Uwe Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe unter, nachdem eine von ihnen angemietete Garage durchsucht und Sprengstoff und Listen von pptentnziellen Zielen gefunden werden. Kurz nach dem Gerlach vom Untertauchen erfährt, ruft er Ralf Wohlleben an um sich nach den gemeinsamen Freuden und Kameraden zu erkundigen. Wohlleben will am Telefon nicht darüber sprechen. Ein paar Tage später besucht ihn Andre Kapke in Hannover um über das Untertauchen und den vesuchten Sprengstoffanschlag zu sprechen. Kapke teilt ihm mit, dass er und Wohlleben nun nach Hilfe für die Drei suchen würden.
Zwei Jahre nach seinem Umzug nach Hannover, noch bevor er den Liederabend in Hildesheim organisiert, wird Gerlach von Ralf Wohlleben angsprochen und um Unterstützung für das Trio gebeten. Wohlleben und er kennen sich aus der gemeinsamen Zeit im Thüringer Heimatschutz.Gerlach gibt Wohlleben 3.000 DM für den NSU. Auf der Hochzeit des führenden Neonazis Thorsten Heise im Juni 1999 in Northeim soll er mit Heise über Möglichkeiten einer Flucht des Trios nach Südafrika sprechen. Auf der Hochzeit ist das Who-is-who der deutschen Naziszene anwesend. Gerlach reist nicht allein an. Mit ihm im Auto sitzt Hannes Franke, ein weiterer Blood & Honour-Aktivist aus Hildesheim, der später ein Tattoo-Studio in Soltau-Fallingbostel aufmacht. Hannes Franke ist zudem Mitbesitzer des Militärladens und der „Fightschool“ vom oben genannten Johannes Knoch. Das Vorgespräch mit Heise zur Unterstützung des NSU führt schließlich ein anderer Gast. Tino Brandt, der Führer der Kameradschaft von Gerlach, Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. Tino Brandt ist zu diesem Zeitpunkt V-Mann des Thüringer Verfassungsschutz. 2007 findet das BKA bei einer Razzia auf Heises Grundstück im Eichsfeld meherere Kassetten aus einem Diktiergerät die das Gespräch zwischen den beiden und den Inhalt dokumentieren. Nachdem Brandt vorgefühlt habe, spricht Gerlach mit dem Bräutigam über mögliche Optionen.
Das Hamburger Abendblatt meldet am 15. Juni 1999 dazu kurz:
„dpa Northeim – Auf der Hochzeit des Neonazis Thorsten Heise in Northeim sind Gäste bewaffnet und mit Nazi-Emblemen erschienen. Die Polizei stellte eine scharfe Pistole und Munition sicher. Sie hatte in der Nähe des Wohnhauses zwei Überwachungsstellen mit Straßensperren eingerichtet, um die anreisenden Hochzeitsgäste und deren Fahrzeuge zu kontrollieren.“
Zwei Monate später, am 11. August 1999 observiert der Verfassungsschutz Gerlach wegen einer Quelleninformation. Es wird vermutet, dass das Trio Kontakt zu ihm aufnimmt. Im Mai 1999 hatte V-Mann Tino Brandt dem Verfassungsschutz mitgeteilt, dass Heise bereit wäre dem NSU-Trio bei einer Flucht ins Ausland zu helfen. Der niedersächsische Verfassungsschutz beobachtet wie Gerlach Besuch von Ralf Wohlleben bekommt. Die beiden übernachten beim hannoverschen Blood & Honour-Kader Markus Zenkert und besuchen verschiedene Spielotheken. Der Verfassungsschutz hält fest, dass beide mehrfach in Telefonzellen telefonieren, obwohl beide Handys besitzen. Ein Treffen mit Thorsten Heise kommt aber hier nicht zu Stande.
Zwischen Sommer 2000 und Ende Juni 2001, kurz vor dem ersten Mord des NSU entwickelte Gerlach eine Briefreundschaft zum, zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis sitzenden Thorsten Heise. Rund ein Dutzend Briefe gehen durch die Kontrolle der Anstalt. In den Vernehmungen erinnert sich Gerlach später an zumindest zwei weitere Treffen mit Heise. Einmal im Auftrag von Wohlleben, einmal im Auftrag von Brandt. Ungefähr 1999 habe Heise ihm eine Telefonnummer in Südafrika gegeben. Thorsten Heise wiederum erinnert sich in seiner Vernehmung später weder an Gerlach, noch an die Treffen mit ihm.
Im Mai 1999 spricht Gerlach mit Wohlleben auf einer Geburtstagsfeier in Jena vertraulich über das Trio.
Im Sommer 2000 besucht Gerlach das untergetauchte NSU-Trio bei ihrem Sommerurlaub auf einem Campingplatz auf Usedom. Es ist der erste von mehreren gemeinsamen Urlauben. Über die berichtet Gerlach in seiner Vernehmung, Beate Zschäpe hätte alles bezahlt. Er habe lediglich die Anreise selbst übernehmen müssen. Diese Urlaube seien auch als „jährliche Systemchecks“ gedacht gewesen. Zur Überprüfung ob es in Gerlachs Leben Veränderungen gegeben habe, ob gegen ihn ermittelt werde und ob Gerlachs Identität weiter gefahrlos nutzbar sei. Im Jahr nach dem ersten gemeinsamen Urlaub, 2001 transportiert Holger Gerlach für Ralf Wohlleben eine Waffe von Chemnitz nach Zwickau. Dort holt Zschäpe ihn vom Bahnhof ab und bringt ihn zur Zwickauer Wohnung des NSU-Trios. Einer der beiden Uwes packt die Pistole in seinem Beisein aus und lädt sie durch.Im Anschluss habe er sich mit Wohlleben wegen des Waffentransports zerstritten. Dieser habe ihn ausgenutzt. Zuvor habe er einen engen Kontakt zu Ralf Wohlleben gehabt. Im gleichen Jahr organisiert Gerlach für das Trio einen Reisepass. Für das Passfoto lässt er sich extra einen Schnauzbart stehen und setzt eine Brille auf. Die Übergabe erfolgt unter klandestinen Bedingungen bei einem Besuch Gerlachs bei seiner Schwester. Er übergibt den neuen Pass und eine Krankenkassenkarte auf seinen Namen auf dem Weg am Bahnhof Zwickau. Dort bekommt er im Gegenzug von Zschäpe 13.000 DM. 3.000 DM davon seien die Rückzahlung der geliehenen Summe. Die 10.000 DM soll er für das Trio verwahren, gibt sie in den folgenden Jahren aber aus. Im Sommer 2002 macht Gerlach mit dem Trio gemeinsam Urlaub in der Nähe von Flensburg. Zwischen 2002 und 2003 bitten die drei ihn wieder Kontakt zu Wohlleben aufzunehmen, was aber scheitert. Wohlleben will damit in Ruhe gelassen werden. Gerlach erfährt das auch Ralf Wohlleben 10.000 DM vom Trio bekommen habe. Ein Jahr später, im Mai 2004 feiert Gerlach seinen Geburtstag im „Braunen Haus“ in Jena. Das „Braune Haus“ ist wie der Winzela Jugendclub ein wichtiger Ort für die Thüringer Neonazi-Szene. Im Sommer des gleichen Jahres besucht Gerlach die drei Untergetauchten bei ihrem Urlaub in Lübeck. Gemeinsam besichtigen sie unter anderem das Wahrzeichen der Stadt, das Holsten Tor. Zwei Jahre später intensiviert sich der Kontakt zwischen Gerlach und dem Trio, mehrfach telefonieren sie, bis Gerlach ihnen seinen Führerschein, eine ADAC-Karte und eine Krankenkassenkarte übergibt.
Die Krankenkassenkarte hatte er zuvor der Frau seines Freundes Alexander Scheidemantel, für 300 € abgekauft. Über die spätere Hochzeit von Silvia Rossberg mit Alexander Scheidemantel und die damit verbundene Namensänderung informiert er das Trio. Im Zeitraum zwischen 2006 und 2007 trifft sich Gerlach mit den Drei in seiner Wohnung in Bothfeld. In diesem Zeitraum kommt es auch zu einem letzten Treffen mit Wohlleben. In den folgenden Jahren kommt es zu weiteren Treffen zwischen Gerlach und den dreien. Nun treffen sie sich aber in der Öffentlichkeit. Bei einem Treffen im Sommer 2008 treffen sie sich am Kröpcke und besichtigen die Stadt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie hier nach möglichen Zielen für Morde oder Anschläge Ausschau hielten. 2009 kommt es zu einem Treffen am Autohof in Lauenau. Hierhein ist Gerlach im Jahr zuvor umgezogen. Im Mai 2011 besucht das Trio ihn ebenfalls zu Hause. Uwe Böhnhardt schneidet ihm die Haare, anschließend fahren sie gemeinsam nach Rodenberg, wo sie Passfotos von Gerlach machen und im Anschluss einen neuen Reisepass auf seinen Namen beantragen und einen vorläufigen Ausweis für Gelach ausstellen lassen. Acht Wochen später kommen sie erneut vorbei und holen den Ausweis ab.
Als Einschätzung und Zusammenfassung zur Person Holger Gerlach möchten wir an dieser Stelle die Journalistin Andrea Röpke zitieren:
„Holger Gerlach – dieser schlaksige Neonazi, der da im Prozess zunächst also von den Bericht erstattern ziemlich herabgewürdigt wurde und der meiner Ansicht nach viel intelligenter auftritt, als es von den Medien angenommen wurde – war teilgeständig, hat über die Waffenlieferungen geredet, hat auch freimütig über seine Spielsucht, seine Erpressbarkeit geredet, darüber, dass er eigentlich bis zuletzt noch die Abtarnung gesichert hat, indem er seinen Pass noch ganz kurz vorher, 2011, erneut beantragt hat und auch noch mal zur Verfügung gestellt hat, dass er sich zum Urlaub hat einladen lassen und eigentlich ja auch immer wieder zur Verfügung stand im ganzen Zeitraum zwischen 1998 und 2011.Holger Gerlach hat aber zugleich auch versucht, mithilfe des Zeugenschutzes des BKA weiszumachen, er sei Aussteiger; er hat das mehrfach versucht. Wir konnten Gott sei Dank auch anhand von Bildmaterial widerlegen, was er da behauptet hat. Eine Akte beim Verfassungsschutz in Niedersachsen hat es anscheinend nicht gegeben. Also, er ist mitnichten seit 2004 nicht mehr aktiv. Im Gegenteil, 2005 habe ich ihn selbermehrfach gesehen und gefilmt, und wir haben auch Angriffe von ihm in Garbsen, in Hannover,an denen er beteiligt war. Jetzt kommt es natürlich wieder: Er hat sich, genauso wie Herr Eminger, nicht etwa bei der NPD oder irgendwelchen harmlosen Gruppen getummelt, sondern tatsächlich bei der inzwischen verbotenen militanten Gruppierung „Besseres Hannover“. Das heißt, er hat – und das ist die gleiche Schiene, wie Frau Zschäpe es versucht hat – im Prozess versucht, zu sagen, der Anführer von „Besseres Hannover“, dieser militanten Kameradschaft, sei doch nur ein Freund, und einen Freund dürfe man doch begleiten, und man sei doch nur aus Freundschaftsdiensten noch zu Demonstrationen gegangen. Jetzt ist natürlich noch rausgekommen, dass es eine rassistische SMS von ihm gegeben hat. Sein Computer war voller rechtsradikaler Musik. Er hat wirklich bis zuletzt diesen Kontakt ins militante Lager gehalten. Bei Holger Gerlach muss man auch sagen: Er istvon Jena nach Niedersachsen umgezogen und hat als Allererstes erst mal ein Konzert von „Blood &Honour“ besucht. Wenn man sich dieses Konzert anschaut – ich habe eine DVD davon -, dann siehtman einen ganz begeisterten Holger Gerlach, klatschend zu „Blood & Honour“-Musik, zu denLiedern von „Eichenlaub“, die die Flucht besingen. Holger Gerlach gehörte zum „inner circle“auch von Thorsten Heise, einem der Anführer der Kameradschaftsstrukturen in Niedersachsen.Das heißt, wir haben da einen Neonazi, der den dreien immer wieder bei der Abtarnung geholfenhat, einen Neonazi, der dem Verfassungsschutz so unwichtig schien anscheinend, den die tatsächlich nicht auf dem Schirm haben, was für mich unerklärlich ist, weil er auch mit der „Kameradschaft Weserbergland“ bei den Demos zusammen aufmarschiert ist; das haben wir gefilmt. Diese „Kameradschaft Weserbergland“ hat über Jahre wirklich in Niedersachsen die Leute angegriffen, in Atem gehalten, weil es auch eine militante Kameradschaft war. Ich weiß nicht, wieGerlach es geschafft hat, tatsächlich der Öffentlichkeit, vor allen Dingen auch den Sicherheitsbehörden, derartig anscheinend zu entgehen. Das ist das, was mir so ganz ad hoc dazu einfällt.Zu Holger Gerlach kann man natürlich ganz, ganz viel erzählen. Vor allen Dingen haben wir durchdie Berichterstattung dann aber auch relativ schnell erreicht, dass diese Geschichte mit dem BKA-Zeugenschutz dann nicht weitergeführt wurde; denn – und das finde ich auch eine besondere Dreistigkeit – Holger Gerlach hat sogar nachweislich unter den Blicken seiner Zeugenschützer von der Polizei einen Neonazi und weiteren Zeugen im NSU-Verfahren in München getroffen. Also, das heißt, er hat auch ganz bewusst damit gespielt, und ich frage mich allen Ernstes: Warum soll man bei jemandem wie Holger Gerlach, wo man so definitiv auch nachweisen kann, dass er gelogen hat, was seine eigene Position, seine fanatische politische Einstellung betrifft, so verfahren? Da muss man das einfach so definieren, dass er – aus meiner Sicht: aus absoluter Überzeugung – diesen „Nationalsozialistischen Untergrund“ unterstützt hat; sonst liefert man auch keine Waffe weiter.
Zitiert nach : http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/CD12950/Anlagen%200001-0094/Anlage%201%20-%203.%20Sitzung_endg.%20stenogr.%20Protokoll_17.12.2015.pdf Stenografisches Protokoll der 3. Sitzung – endgültige Fassung* -3. Untersuchungsausschuss; 18. Wahlperiode Deutscher Bundestag – Stenografischer Dienst Seite 61 von 70; Berlin, den 17. Dezember 2015, 9:30 Uhr
Ein paar Bemerkungen zum NSU-Komplex und der Aufarbeitung aus antifaschistischer Perspektive
Die Aufarbeitung des NSU-Komplex läuft seit November 2011, nunmehr also seit fast 6 1/2 Jahren. Engagierte Journalist*innen, die Anwält*innen der Nebenklage, mutige Parlamentarier*innen und antifaschistische Strukturen recherschieren seitdem zum NSU. Ihnen steht dabei kein Apparat aus Beamt*innen und geheimdienstlichen Befugnissen zur Verfügung. Die Generalbundestaatsanwaltschaft hat sich im NSU-Prozess auf das Narrativ der „singulären Vereinigung aus drei Personen“ versteift. Drei Einzeltäter*innen. Demgegenüber steht die andere Perspektive. Die eines Netzwerks, in dass das „Trio“ eingebunden war. Eines Netzwerks, dass möglicherweise auch weitere Zellen unterstützt, die es gab und möglicherweise noch gibt. Zurecht muss sich aber auch die antifaschistische Bewegung dem Vorwurf stellen, versagt zu haben. Das Abtauchen des Kern-Trios, dass zu diesem Zeitpunkt schon mit Sprengstoff hantierte, löste keine antifaschistischen Nachforschungen aus. Auch als 2006 die Hinterbliebenen und migrantische Gruppen alleine in Kassel auf die Straße gingen und mit der „Kein 10. Opfer“-Demo auf ihre Vermutung einer faschistisch motivierten Mörderbande aufmerksam machten, schwieg die Bewegung. Das sollte für uns eine Lehre sein. Ein Anlass für mehr Vernetzung mit migrantischen Gruppen auf Augenhöhe, für ein offenes Ohr für das migrantische Wissen um rechte Strukturen und für den Mut Dinge gemeinsam anzugehen.
Antifaschistische Rechersche steht bei der Aufklärung der Hintergründe des NSU-Netzwerk vor mehreren Problemen. Der Beginn der Strukturen, auf die der NSU zurückgriff, liegen teilweise weit in der Vergangenheit. Das NSU-Trio politisierte sich Anfang der 90er-Jahre. Die Stukturen wie Blood & Honour-Zellen, das Netzwerk rund um Thorsten Heise oder Sigfried Borchert aus Dortmund stammt noch aus den 70er- und 80er-Jahren. Nur in seltenen Fällen gibt es in unserer Bewegung personelle Kontinuitäten, auf dessen Wissen heutige Recherschestrukturen zurückgreifen können. Nur selten haben kleine regionale antifaschistische Archive die 30-Jahre kontinuierlich weiter gearbeitet. Um so wichtiger sind Projekte wie das Apabiz und aida, die in den letzten Jahren die Nebenklage und Journalist*innen mit Bildmaterial und Dokumenten versorgen konnten und damit maßgeblich zur Aufarbeitung beitragen konnten. Eine weitere Lehre kann daher nur sein, sich weiter zu vernetzen, genauer auf Strukturen zu schauen und misstrauisch zu werden, wenn einzelne Personen oder rechte Zusammenhänge von der Bildfläche antifaschistischer Beobachtung verschwinden.